Charakteristika des Gewissens

Buchauszug: Sabine Wöger (2021). Gewissen und Schuld in der psychologischen Beratung. Wissenswertes und Praxiswerkzeuge für psychologisch Beratende. Norderstedt: BoD, S. 23–28.

Weil der Dialog mit dem Gewissen in der Logotherapie zentral für die Lebensqualität und -führung ist, insbesondere für den heilsamen Umgang mit Schuld, Schuldgefühl und Schuldscham, werden folgend einige zentrale Charakteristika des Gewissens aus Sicht von Viktor Frankl erläutert.


Das Gewissen ist sinnfühlend

In der geistigen Dimension menschlichen Seins liegen die freie Stellungnahme zur Körperlichkeit und psychischer Befindlichkeit und ebenso die Fähigkeit, sich auf Wert- und Sinnstiftendes zu beziehen. Hier ist dem Menschen das Gewissen, von Frankl auch als „Sinnorgan“ (Frankl, 2012, S. 24) bezeichnet, dienlich. Es hilft ihm, die für ihn zweifellos geltenden Prinzipien in die eigene Lebensführung zu integrieren. Ein aktiviertes Gewissen wendet die Werte und Normen auf das vergangene, das unmittelbare wie auch auf das künftige Tun und/oder Unterlassen eines Menschen an und bestimmt dessen Wert. Es ist die innere Stimme, welche die Entscheidungen einer Person kommentiert. Seine besondere Bedeutung liegt darüber hinaus darin, dass es ein Spannungsfeld zwischen Sein und Sollen, zwischen dem Allgemeinen und dem Personalen, zwischen dem Anerzogenen und dem individuellen Entscheidungsraum einer Person bildet.

Das Gewissen agiert prälogisch und intuitiv

Viktor Frankl geht davon aus, dass es im Menschen eine unbewusste Geistigkeit gibt, die ihrerseits die bewusste Geistigkeit nährt. Ebenso reicht das Gewissen in eine unbewusste Tiefe hinab, wo es in einem unbewussten Grund wurzelt. Gerade die großen, „existentiell echten“ (ebd.) Entscheidungen erfolgen unbewusst und unreflektiert. Daher kann vom „prälogischen“ (ebd., S. 247) Gewissen gesprochen werden. Die Aufgabe des Gewissens liegt darin, dem Menschen „das eine, was nottut“ (Frankl, 1990, S. 249–250) zu erschließen.

Das Gewissen entspringt dem ästhetisch Unbewussten

Frankl spricht vom „künstlerischen Gewissen“ und vom „ästhetischen Unbewussten“ (Frankl, 2017, S. 251). Kunstschaffende sind auf die unbewusste Geistigkeit angewiesen. Der nicht restlos rationalisierbaren Intuition des Gewissens entspricht bei Künstler*innen die Inspiration, die ebenso in der unbewussten Geistigkeit verwurzelt ist, ehe sie in das Bewusstsein emporsteigt. Aus ihr heraus werden großartige Kunstwerke geschaffen, aus Quellen, die in einem „niemals restlos erhellbaren Dunkel“ (Frankl, 2017, S. 251) liegen.

Das Gewissen kann gehört oder überhört werden

Es gibt Situationen, in denen uns ein unmissverständlicher Gewissensanruf erreicht, dem wir jedoch nicht folgen, weil wir vielleicht körperlich müde und geistig träge sind. Eine Gelegenheit nicht zu nutzen, ist menschlich. Frankl schildert in dem Buch mit dem Titel „Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn“ (1990), wie er den Mithäftlingen angesichts der ständigen Lebensbedrohung im KZ Mut zugesprochen hatte. Sie sollten nicht verzweifeln, „weil irgendjemand, ein Freund oder eine Frau, ein Lebender oder ein Toter – oder ein Gott“ (Frankl, 1990, S. 176), mit forderndem Blick und in der Erwartung herabsieht, nicht enttäuscht zu werden. An anderer Stelle in diesem Buch gesteht er, dass er „allzu selten die innere Kraft hatte“, sich voll und ganz auf den „letzten inneren Kontakt“ mit seinen Leidensgenossen einzulassen und er so manch äußere Gelegenheit nicht genutzt hat (Frankl, 1990, S. 176).

Das Gewissen kann in die Irre führen

Das Gewissen vermag den Menschen auch zu täuschen. Es ist dazu fähig, „Unrecht für Recht zu halten, Inquisition für Gott wohlgefällig und Mord für politisch wertvoll. Das Gewissen ist um 180 Grad drehbar“, so der Schriftsteller Erich Kästner, 1899–1974 (Kästner in Lexikus, o. J., o. S.). Allein die Tatsache, dass eine moralische Handlungsempfehlung unserem Gewissen entspringt, bürgt nicht für deren Qualität, vergleichbar mit einem Produkt, das mit einem Qualitätsgütesiegel versehen ist, und dennoch ist nicht gewiss, dass der Inhalt einwandfrei ist, so er nicht überprüft wird.

Literatur

  • Frankl, V. E. (1946). Ärztliche Seelsorge. Wien: Franz Deuticke.
  • Frankl, V. E. (1990). Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. München: Piper.
  • Frankl, V. E. (2012). Der Wille zum Sinn. Bern: Huber.
  • Frankl, V. E. (2017). Wer ein Warum zu leben hat. Lebenssinn und Resilienz. Weinheim: Beltz.
  • Lexikus (o. J.). Zitate von Erich Kästner, deutscher Schriftsteller. Abgerufen am 05.09.2021 von http://www.lexikus.de/bibliothek/Zitate-von-Erich-Kaestner-deutscher-Schriftsteller.

Sabine Wöger
Psychotherapeutin (Existenzanalyse und Logotherapie)
Gesundheits-, Erziehungs- und Bildungswissenschaft
Tiefenpsychologie
Palliative Care

E-Mail: office@sabinewoeger.at
Website: www.sabinewoeger.at

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